Der katalanische Herbst III

von Thomas Büser

Der katalanische Herbst

Die Revolte der katalanischen Separatisten treibt Spanien in eine Zerreißprobe - und einige buchstäblich in den Wahnsinn. Ein Krisen-Tagebuch.

Montag, 16. Oktober
Javier Marías hat natürlich Recht. Der Romanautor beschreibt in seiner Sonntagskolumne sein Erstaunen über die Beflaggung der gesamten Madrider Innenstadt, inklusive Altstadt und Habsburgerviertel. Spanische Flaggen überall. Ein unerhörter Vorgang in Madrid, das sich immer durch eine ungekünstelte Willkommenskultur für alle Auswärtigen auszeichnete. Flaggen überflüssig, weil auch keine Fragen nach der lokalen oder nationalen Identität gestellt wurden. Wie heißt du? Woher kommst du? Und tschüs. Jetzt also flaggentechnische Aufrüstung ähnlich wie schon seit Jahren in Barcelona. Die unmittelbare Konsequenz: Seit dem (Wieder)ausbruch der katalanischen Krise spricht niemand mehr über die wirklich wichtigen Probleme. Korruptionsskandale, Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit (37% der Spanier sind unmittelbar von Armut bedroht!), Immobilienspekulation - alles vergessen inmitten des Identitätsrausches. Kein Zufall, dass es ausgerechnet die regierende PP und die katalanischen Separatisten sind, die diese identitäre Mobilmachung ausgelöst haben. Sind es doch genau die Kräfte, die die gravierendsten Korruptionsfälle und die drastischsten Kürzungsmaßnahmen zu verantworten haben. Unvergessen die Bilder aus dem Jahr 2012, als die nationalistische Politelite mit Hubschraubern ins katalanische Parlament eingeflogen werden musste, weil die Anti-Kürzungsdemonstranten ihnen den Weg versperrten. Und als die graue Eminenz des katalanischen Separatismus, Artur Mas, den Befehl zum Schlagstockeinsatz gab. Bilder, die man angesichts der heute so oft beschworenen Einheit von Volk und Führung in Barcelona geflissentlich ignoriert.
Der Einsatz des ominösen Artikels 155 der spanischen Verfassung rückt in bedrohliche Nähe. Wie so vieles in der spanischen Konstitution ist auch dieser Paragraph dem deutschen Grundgesetz nachempfunden. Stichwort wehrhafte Demokratie. "Sollte eine autonome Region ihre verfassungsrechtlichen Pflichten nicht erfüllen oder das Gemeinwohl des spanischen Staates auf schwerwiegende Weise gefährden, kann die Regierung (...) mit absoluter Mehrheit im Senat die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um diese autonome Region zur Einhaltung ihrer Pflichten (...) zu zwingen. " Siehe Paragraph 37 Grundgesetz. Die große Frage lautet jetzt: Welche Organe der katalanischen Regierung und/oder Administration stellt Madrid unter Zwangsverwaltung? Die Polizei? Oder eventuell das Schulwesen?.Und wie soll im Ernstfall ganz konkret die Absetzung von Politikern und leitenden Beamten funktionieren? Was passiert, wenn diese sich weigern, ihren Posten zu verlassen? Wieder Bilder von zivilem Ungehorsam und Massendemonstrationen? Und was ist, wenn die nicht- separatistischen Katalanen dieses Mal nicht die Klappe halten und ebenfalls auf die Straße gehen?

Dienstag, 17. Oktober
Mitten in diese kurze Reflexionsphase platzt die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (es ist nicht "ein Gericht in Madrid", wie der Spiegel-Redakteur in vorauseilender Sympathie für die separatistische Causa schreibt). Die Audiencia Nacional hat die beiden Anführer der "zivilgesellschaftlichen" Organisationen ANC und Omnium, Jordi Cuixart und Jordi Sánchez, zu Haftstrafen verurteilt. Sofortiger Haftantritt, Abführung direkt aus dem Gerichtssaal. Ich habe zivilgesellschaftlich bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn die Aktivität der beiden Gesellschaften zur Pflege katalanischer Kultur war in den letzten Jahren alles andere als zivil. Ganz im Gegenteil: Omnium und ANC waren voll und ganz in politische Entscheidungen der katalanischen Regierung eingebunden. Freier Zugang zu Premier Puigdemont und seinem Vize Junqueras. Eine Art Schattenregierung, die das separatistische Abdriften des katalanischen Nationalismus immer weiter vorantrieb. Der Vorwurf gegen Cuixat und Sánchez lautet auf Volksverhetzung. Man muss diese Fragen stellen: Ist es eine friedliche Demonstration, wenn zwei Rädelsfùhrer eine mehr als zehntausendkopfige, protestierende Menge vor ein öffentliches Gebäude führen, in dem gerade Polizei und Justizbeamten Beweismaterial gegen mehrere hohe, separatistische Politiker beschlagnahmen? Und wenn sie die Protestierenden dazu anstacheln, das Gebäude einzukesseln und die Beamten bis zum Morgengrauen daran hindern, das Gebäude wieder zu verlassen? Und wenn während dieser Einkesselung alles Mögliche gebrüllt und mehrere Polizeiwagen demoliert werden? Ich denke, das ist nicht so ganz friedlich und schon gar nicht zivilgesellschaftlich. Jetzt also Knast ohne Kaution. Die separatistische Bewegung hat ihre ersten Märtyrer. Sofort ist von politischen Gefangenen wie in der Franco-Ära die Rede. Mit diesem Schlachtruf wird ab jetzt die internationale Presse systematisch bearbeitet, und ihr linksintellektueller Teil wird diese Argumentation bereitwillig und ohne zu hinterfragen aufgreifen. Dass es eine juristische Entscheidung war, dass der Generalstaatsanwalt und nicht die Regierung den Prozess eingeleitet hat, findet keine Erwähnung. Spanien ist eben wie die Türkei und Katalonien wie Kurdistan.
Egal ob zu hart oder nicht: Die Entscheidung kommt für die Regierung im schlechtesten Moment. Mitten in den Vorbereitungen für die Anwendung des Paragraphen 155, in einer höchst angespannten Situation. Die Entscheidung der Richter setzt Puigdemont noch mehr unter Druck. Und alles andere als eine definitive Ausrufung der Unabhängigkeit würde nun von seinen Anhängern als feiges Einknicken vor dem Feind gewertet. Was juristisch richtig ist, kann politisch ein Fehler sein.
Auszug aus dem Urteil des spanischen Verfassungsgerichts zum katalanischen Referendumsgesetz, das am 7.9. mit den Stimmen des separatistisch-anarchistischen Blocks im katalanischen Parlament verabschiedet wurde und das den Weg für das Referendum zur Unabhängigkeit ebnete: Das Gesetz sei von Anfang an null und nichtig, da es die legislativen Mechanismen aufs schwerste verletze. Das Gesetz missachte sogar die Rechte des katalanischen Parlaments und seiner Minderheiten sowie die fundamentalen Mitwirkungsrechte der eigenen Bevölkerung. Ein staatliches Organ, das ausdrücklich Recht und Gesetz verneine, verneine am Ende die eigene Existenz. Auch wenn die Vorgeschichte dieses Dramas lang und die Ignoranz der PP-Regierung himmelschreiend ist, handelt es sich juristisch um einen Staatsstreich. Man kann das gar nicht oft genug betonen. Das Urteil des Verfassungsgerichts war einstimmig, also auch von den Mitgliedern des progressiven Blocks beschlossen.

Mittwoch, 18. Oktober
Allgemeine Katerstimmung macht sich breit. Die Situation in Katalonien befindet sich in einer Sackgasse. Puigdemont antwortet nicht auf das Ultimatum der Regierung, und diese bewusste Unklarheit lässt diese im Moment davor zurückschrecken, Schritte zur Zwangsverwaltung nach Paragraph 155 einzuleiten. Man will nicht endgültig als Buhmann in der internationalen Presse dastehen. Außerdem würde man sich auf ein extrem unsicheres Terrain mit einer womöglich destruktiven Eigendynamik wagen. Auf der anderen Seite erscheint Puigdemont wie eine Geisel der radikalen Separatistenschaft. Das Angebot Madrids, den Paragraphen 155 endgültig auszusetzen, wenn er jetzt vorgezogene Neuwahlen ausrufe, lehnt Puigdemont ab.
Eine Lähmung mit hohen politischen, sozialen und ökonomischen Kosten zeichnet sich ab. Die Erosion von Demokratie und Rechtsstaat in Katalonien beginnt, an Venezuela zu erinnern. Das katalanische Parlament tagte in den letzten fünf Wochen ein einziges Mal. Die separatistische Mehrheit benutzt es als bloßes Akklamationsorgan. Unterdessen glänzen Rajoy und der sozialistische Oppositionsführer Pedro Sánchez dadurch, dass sie schön brav in Deckung gehen. Politische Initiative: Fehlanzeige. Kommunikation irgendwelcher konstruktiver Vorschläge: ein Trauerspiel. Podemos wiederum übt sich in linker Fundamentalopposition und Anbiederung an die Separatisten. Das plurinationale Spanien als Zauberwort. Aber keinerlei Klarheit, wie etwas anderes als ein südeuropäisches Jugoslawien dabei entstehen soll. Dann die unheilvolle Rolle eines Teils der internationalen Medien, die unüberprüft russisch-katalanische Fake-News über den repressiven Franco-Staat Spanien verbreiten.
Es ist eine unheilschwangere, schwerfällige Atmosphäre, die sich im Land ausbreitet. Wie schon nach den Wahlen von 2016 mit ihrer unendlich schwerfälligen Regierungsbildung ist auch jetzt keine Bewegung in Sicht. Viele Spanien zerren in viele verschiedene Richtungen. Keine Solidarität, kein Gemeinsinn, keine Kompromissbereitschaft, nichts. Wie sollen eine Demokratie und eine Gesellschaft so auf Dauer funktionieren? Die Leidtragenden: die Bevölkerung, vor allem in Katalonien. Eine Freundin ist gerade aus den katalanischen Pyrenäen zurückgekehrt, wo sie zehn Jahre lang gelebt hatte und immer noch ein Wochenendhaus besitzt. Bei der Rückkehr war sie geschockt über die Athmosphäre. Die Leute gedrückt und deprimiert, ein Keil zwischen Separatisten und Nicht-Separatisten in alle Familien und Freundeskreise getrieben. Den einzigen, denen es nach Schreien zumute ist, sind die studentischen Agitationsmassen der Separatisten.

Donnerstag, 19. Oktober
Die Würfel sind gefallen. Puigdemont hat seine DUI nicht formell zurückgenommen. Der demokratische GAU, mit den schlimmsten nur vorstellbaren Hauptdarstellern. Auf der einen Seite Bürokraten, die sich hinter der Justiz verstecken. Auf der anderen Seite halbkriminelle Opportunisten mit Unterstützung der regionalen Chavisten. Das ganze gleicht einer Schmierenkomödie: "Ich habe meine Unabhängigkeitserklárung nach 46 Sekunden ausgesetzt, werde sie aber sofort wieder verkünden, sobald du den Artikel 155 verhängst."
Am Vormittag ist es dann so weit. Der Regierungssprecher verkündet, alle Schritte zur Verhängung des Paragraphen würden nun in die Wege geleitet. Zunächst Beschluss im Ministerrat, dann Weiterleitung an den Senat (eine Art Lánderkammer) zur Absegnung. Dort sind aber eventuell noch Einwände anderer autonomer Regionen möglich, die die Prozedur noch weiter hinauszögern können. Vor Samstag nächster Woche ist nicht mit den ersten konkreten Schritten zu rechnen. Wie werden diese Schritte aussehen? Genau hier beginnt das Mysterium. Wahrscheinlich stellt die Regierung zunächst die katalanische Polizei unter Zwangsverwaltung, danach eventuell die Regierung. Sehr schnell könnte es auch zur Absetzung Puigdemonts kommen. Das Mandat zur Zwangsregierung einer autonomen Region ist zeitlich begrenzt und muss immer wieder vom Parlament erneuert werden. Rajoys Partner in diesem bitteren Moment, die sozialistische PSOE, hat sehr schnell klar gemacht, dass sie nur minimale Eingriffe in die Autonomie wünscht. Zu groß ist die Angst vor bürgerkriegsähnlichen Verwerfungen in Katalonien. Massendemonstrationen sind garantiert, Gewaltausbrüche sind nicht ausgeschlossen, das Image Spaniens in der internationalen Presse wird sich noch weiter verschlechtern, vor allem in den USA ist mit Boykottaufrufen gegen spanische Produkte und den Tourismussektor zu rechnen. Und vor allem: Bei einem zu brutalen Zusammenstoß der beiden Regierungen würde sich die PSOE in Handlanger der Konservativen verwandeln und würde einen großen Teil ihrer linken Wählerschaft an die Konkurrenz von Podemos verlieren.

Freitag, 20. Oktober
Es ist Zeit für eine kleine Zwischenbilanz dieser sechs zermürbenden Wochen. Eine Zeit, in der so manche als sicher angesehene Idee zum Einsturz gebracht worden ist.

1. In der spanischen Politik gibt es keine Kompromiss- und Kommunikationsbereitschaft. Für das jetzige Desaster sind ausschließlich die regierenden Konservativen von der PP und der separatistische Block in Katalonien verantwortlich.

2. Die Separatisten bieten ihren Anhängern eine Vision. Die Vision eines unabhängigen Katalonien, frei von jeglichen Verpflichtungen gegenüber dem Rest des Landes. Weder die spanische Regierung noch die anderen konstitutionellen Kräfte haben diesem simplistischen Gerede etwas entgegenzusetzen. In Spanien gibt es keine positive Vision von Spanien. Der Stolz auf die Überwindung der Diktatur ist verflogen, Krise und Korruption haben diesen Stolz begraben.

3. Die spanische Linke hat ein völlig gestörtes Verhältnis zu ihrem eigenen Land. Bei den Linken von Podemos nimmt das schon paranoide Züge an. Nicht von Spanien ist die Rede, sondern vom spanischen Staat. Während jeglicher spanische Nationalismus misstrauisch beäugt wird (zu Recht), verdienen die Nationalismen in den peripheren Regionen Baskenland und Katalonien jegliche nur denkbare Bevorzugung. Ganz so, als handele es sich immer noch um die unterdrückten Provinzen der Franco-Zeit.

4. Dem katalanischen Separatismus kann es nicht verziehen werden, dass er Radio, Fernsehen, öffentliche Universitäten und Schulen zu Erfüllungsgehilfen seiner Ideologie degradiert hat. Noch viel weniger ist es ihm zu verzeihen, dass er die politischen Konflikte mit voller Absicht bis in die Familien getragen und Nicht-Separatisten systematisch ausgegrenzt hat. Schuldirektoren, die Erst- und Zweitklässer in geschlossenen Kolonnen zu einer separatistischen Demonstration geschleift haben, sollten von der Zentralregierung sofort aus dem Dienst entlassen werden.

5. Ein besonders deprimierendes Zwischenresümee: Auch die Linke kann rassistisch und xenophob sein. Die herablassende Abgrenzung des von linken Kräften dominierten Separatismus gegenüber dem "Rest-Spanien" ist der schlagende Beweis. Nicht mehr für die Armen bezahlen, nicht mehr dafür zuständig sein. Ist das links?

6. Die Vergewaltigung des Begriffs "Volk" durch die Separatisten erregt Brechreiz. "Das Volk" hat für die Unabhängigkeit gestimmt. Die 57%, die beim "Plebiszit" vom 1. Oktober ihre Stimme nicht abgegeben haben, gehören nach dieser Lesart also nicht zum Volk. Woher kommt uns diese Logik bekannt vor?

7. Der Shitstorm in den sozialen Netzwerken und in Teilen der internationalen Medien stellt Spanien als repressive Diktatur dar. Schlimm ist, dass wieder einmal russische Hacker ihre Finger im Spiel haben. Noch schlimmer ist aber, dass katalanische Separatistenkreise mit Putins Schergen offenbar gemeinsame Sache machen. Wer die eigenen Brüder und Schwestern, Freunde und Arbeitskollegen mit einer solchen Gehässigkeit behandelt, der verdient keine Gnade beim Paragraphen 155.

8. Es ist unglaublich, mit welcher Leichtigkeit sich vor allem internationale Jung-Journalisten von den pseudo-pazifistischen Partydemonstranten in Barcelona hinters Licht führen lassen. Dieselben Demonstranten, die in Sekundenschnelle umschalten, wenn ein spanischer Journalist erscheint, und ihm "Lügenpresse" entgegenschreien.

9. Solidarität deutscher Journalisten mit den spanischen Kollegen: Fehlanzeige - auch wenn unabhängige Journalistenverbände gegen die Behinderung des freien Journalismus in Katalonien Sturm laufen. Solidarität deutscher Sozialdemokraten mit ihren katalanischen Parteigenossen, die einer schlimmen Mobbing-Kampagne von separatistischen Kreisen ausgesetzt sind: Fehlanzeige. Wir leben wirklich in asozialen Zeiten.

10. Ministerpräsident Rajoy ist politisch inkompetent, denn er hat keinen Mut und keine Visionen. Am liebsten verschanzt er sich hinter der Justiz. Aber die Separatisten um Puigdemont sind in dem Moment als Putschisten zu behandeln, in dem sie die Unabhängigkeit erklären. Ihnen drohen 15-30 Jahre Haftstrafe. Ein internationaler Aufschrei ist garantiert. Gerade in Deutschland sollte man sich aber an das Konzept der "wehrhaften Demokratie" erinnern. Eine Demokratie darf gegen demokratiefeindliche Kräfte die Krallen zeigen.

Sonntag, 22. Oktober
Jetzt ist er also da, der vielbeschworene Paragraph 155. Rajoy hat ihn in seiner üblichen akademischen Art als 5-Punkte-Plan verkündet. Das Wichtigste, wie immer beim spanischen Ministerpräsidenten, ganz am Schluss. Zwangsverwaltung für Katalonien, Puigdemont und die katalanische Regierung werden abgesetzt, dem katalanischen Parlament werden jegliche Weisungsbefugnisse entzogen. Es kann also keine Gesetze mehr verabschieden und keine Neuwahlen anberaumen. Allerdings tritt der Paragraph aller Voraussicht nach erst nächsten Freitag in Kraft. Dann tritt die zweite Parlamentskammer, der Senat, zusammen und wird das Gesetz mit der absoluten Mehrheit der Regierungspartei PP verabschieden. Puigdemont hat also noch ein paar Tage Zeit zu reagieren. Eine Reaktion könnte die Ausrufung von Neuwahlen sein. Mit diesem Schritt könnte der separatistische Block die Zwangsmaßnahmen der Regierung zwar nicht rückgängig machen, aber zum alles beherrschenden Thema eines bis aufs Äußerste polarisierten Wahlkampfes machen. Eine Kampagne, bei der aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht separatistische Katalanen ins Lager von Puigdemont und Co. umschwenken könnten. Zu groß ist die Empörung in der Region über die "Repression" aus Madrid. Da nützt es auch nichts, dass von seiten der konstitutionellen Kräfte PP, PSOE und Ciudadanos immer wieder erklärt wird, es handele sich nicht um einen Entzug von Grundfreiheiten, sondern um eine Rückführung der autononem Region hin zur Legalität. Aber das klingt viel komplizierter als Repression. Unterdrückung passt zum separatistischen Opferdiskurs wie maßgeschneidert. Das Problem für Puigdemont: Er hat nur noch zwei Tage Zeit zur Ausrufung von Neuwahlen. Tut er diesen Schritt am Mittwoch, dann wäre der Wahltermin laut Wahlgesetz an Weihnachten. Und ab Freitag existiert seine Regierung als solche voraussichtlich nicht mehr - zumindest, wenn alles halbwegs "normal" läuft. 
Aber was ist schon normal, in diesem nicht enden wollenden Ausnahmezustand, in den das Land seit mehr als einem Monat versunken ist? Und was Leuten wie Puigdemont und seinem Kabinett der Begriff Legalität bedeutet, das haben wir ja bei der Verabschiedung des Plebiszitgesetzes am 7.9. gesehen, das ohne vorherige Lesung und Anhörung durchs Parlament gepeitscht wurde. Es ging ja nur um eine mögliche, einseitige Unabhängigkeitserklärung der Region.  Seitdem, also in einem Zeitraum von sechs Wochen, tagte das katalanische Parlament genau ein einziges Mal. Als Dekoration bei der Nicht-Oder-Vielleicht-Doch-Unabhängigkeitserklärung vom 10. Oktober. Wenn jemand die autoritären Tendenzen der PP-Regierung noch um Längen schlägt, dann ist es die katalanische Separatisten-Trias aus PdeCat (bürgerlich), Esquerra Republicana (links) und CUP (chavistisch).
Keine Frage: der gestrige Tag ist ein tiefer Einschnitt in die Geschichte des Landes. Noch nie wurde eine autonome Region unter Zwangsverwaltung gestellt. Eventuell teilt dieser Tag die jüngere spanische Historie in ein Davor und Danach. Auf jeden Fall befinden wir uns in einer Art Notstand voller Gefahren und unvorhersehbarer Situationen. Freunde berichten mir von einer zugleich hasserfüllten und zutiefts deprimierten Stimmung in Barcelona. Auch auf das ferne Madrid greift die Nervosität langsam über. Bei unserem Sonntagsausflug berichtet uns ein befreundetes Paar über erste Notfallpläne zum Auswandern. Zwar ist alles noch sehr hypothetisch, aber die Angst ist da, für lange Zeit in einem Land mit einer vollkommen vergifteten Atmosphäre leben zu müssen. Natürlich gibt es die Zyniker, die sich die Hände reiben, weil in den letzten Wochen hunderte katalanischer Firmen ihren Sitz nach Madrid verlegt haben. Madrid hat Katalonien als Nummer Eins beim BIP abgelöst. Aber trotzdem leben wir in einem Land. In Katalonien wohnen Eltern, Geschwister, Freunde, Arbeitskollegen. Natürlich ist deren Depression auch unsere Depression. Der sprunghafte Anstieg von Angst- und Panikattacken, die den katalanischen Gesundheitsbehörden in den letzten Wochen gemeldet wurden, spricht Bände. Wie können diese ganzen Beziehungen und persönlichen Verflechtungen durch eine Grenze zerschnitten werden? In welches kranke Hirn passt so eine Ideologie?

 

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