Die "Movida madrileña" - eine Kulturrevolution?

von Thomas Büser

Was für Deutschland das Jahr 1968 das war in Spanien die "movida madrileña". Aber war sie wirklich eine Kulturrevolution?

Wir leben in unruhigen Zeiten zwischen Grexit, Brexit und Flüchtlingskrise. Und Spanien befindet sich womöglich in einer noch existentielleren Krise als der ganze Kontinent: Korruptionsskandale, separatistische Kampfansagen, Massenarbeitslosigkeit, Massenfrust und eine allumfassende politische Lähmung. Ein explosiver Cocktail. Nicht verwunderlich, dass die Rufe nach tiefgreifender Reform oder sogar politischkulturellem Umsturz immer lauter werden. Noch viel weniger verwunderlich, dass dabei der Blick in vergangene Krisenzeiten zurückschweift. So zum Beispiel in die ebenfalls unstabilen 80er. Es ist wie ein Versuch der Orientierung und der Hilfesuche: Wie war das damals? Wie sind wir damals aus dieser Existenzkrise herausgekommen? Wie haben die Menschen die Initiative an sich gerissen? Oder war am Ende alles nur ein Trugschluss?

Die 80er in Spanien: das war Aufbruch und Dauerkrise zugleich. Der Weg von der endlosen Franco-Diktatur in eine echte, europäische Demokratie erwies sich als steinig. Noch mehr als fünf Jahre nach dem Tod des Caudillo, am 23.2.1981, hatte das Land mit knapper Not einen Militärputsch überstanden. Der überwältigende Wahlsieg der sozialistischen PSOE unter Felipe González vollzog sich im Jahr darauf immer noch vor den geladenen Pistolen der Armee. Auch sonst war die politische und soziale Lage explosiv:genauso wie heute lag auch vor mehr als 30 Jahren die Arbeitslosenquote bei mehr als 20%. Doch darüber hinaus erlebte das Land eine Epoche der terroristischen Gewalt. Die baskische Terrororganisation ETA erschütterte Spanien mit Bombenattentaten und Morden an Polizisten und Militärs. Kaum ein Monat, in dem die Hauptstadt keinen Anschlag oder zumindest eine Attentatsdrohung erlebte. Dabei schreckten die Terroristen auch nicht davor zurück, Bomben in Cafés und Supermärkten explodieren zu lassen (ein Attentat in der Cafetería Ronaldo unweit der Plaza Mayor kostete 1974 13 Menschen das Leben. Bei einer Bombenexplosion vor der Verkehrsschule der Guardia Civil starben im Jahr 1986 12 Menschen). Die achtziger Jahre, das war zugleich eine Phase des demokratischen Neubeginns und eine bleierne Zeit der Gewalt.

Wie war es also möglich, dass dieses blutige und hochproblematische Jahrzehnt im Rückblick von vielen Spaniern als eine Art goldene Ära empfunden wird? Es muss wohl daran liegen, dass jedem Anfang ein Zauber inne wohnt. Das Hermann Hesse-Zitat hatte auch im Spanien der 80er seine Richtigkeit. Nach 40 Jahren katholischer Diktatur endlich Demokratie. Eine neue Zeit mit neuen Strukturen. Eine Revision des Polizeistaats, der obligatorischen katholischen Erziehung, des Verbots von Scheidung und Abtreibung, ein Ende der Polizeiverfolgung von Schwulen und Lesben. Das Land befand sich trotz aller Probleme in einem Rausch des Neuen. Fieberhaft sollte das Versäumte nachgeholt werden. Und genau hier trat die sogenannte "Movida madrileña"auf den Plan.

Alles begann mit einem Gedenkkonzert für den jung verstorbenen Rocksänger "Canito"im Jahre 1980. Weitere Events folgten bald, und es geschah etwas völlig Neues: der Punk kam nach Madrid. Aber nicht nur der Punk, sondern generell junge Bands mit einem respektlosen, frischen und an den Dadaismus erinnernden Habitus. Vorbei waren die Jahre der hippiesken Polit-Protestsongs. Die neue Generation wollte wild und frei sein, aber nicht politisch. Mut zum schrillen Exzess war gefragt. Und bald hatte diese Generation auch ein neues Woodstock: das Konzert an der Madrider Architektenschule am 23.5.1981. Bei ihm gaben sich junge Bands ein Stelldichein, die bald (und bis heute) zu landesweiter Berühmtheit gelangten: Alaska y los Pegamoides, Nacha Pop, Los Secretos etc. Begleitet wurde diese musikalische Explosion von einer Hyperpräsenz der jungen Wilden im Radio, in Flugblättern oder ersten improvisierten Publikationen. Aber die "Movida madrileña" artikulierte sich nicht nur in der Musik. Wild und hemmungslos ging es auch in den ersten Filmen eines gewissen Pedro Almodóvar zu, schrill war die Mode der Ágata Ruiz de la Prada und das Künstlerduo Las Costus verwandelte seine Wohnung in Malasaña in Atelier und Treffpunkt aller schrägen Nachtgestalten. Überhaupt Chueca und Malasaña: hier tobte sich aus, wer in Madrid etwas erleben wollte. Lokale wie La Vía Láctea oder El Penta (einige der wenigen noch heute existierenden Bars) entwickelten sich zu Treffpunkten dieser "Avantgarde". Im benachbarten Chueca wiederum entstanden erste Treffpunkte von Schwulen und Lesben, die nach Jahrzehnten der Repression (bis 1979 wurde Homosexualität in Spanien noch mit der Elektroschocktherapie behandelt) eine eigene Sub- und Gegenkultur aufbauten. Der bis heute existierende Buchladen Berkana in der Calle Hortaleza war einer der Wegbereiter jener sozialen Emanzipation. Während der Movida war es plötzlich hip, schwul zu sein: Almodóvar und das Original Fabio Mc Namara inszenierten ihre Sexualität schrill und extrovertiert, distanzierten sich bewusst von der Verklemmtheit der Franco-Zeit. Auch die Politik half ausnahmsweise, denn mit dem sozialistischen Philosophieprofessor Enrique Tierno Galván hatte die Hauptstadt einen Bürgermeister, der die madrilenische Jugend in ihrer Experimentierfreude noch bestärkte. Und wie jedes künstlerische Experiment, so entwickelte die "Movida madrileña" bald auch ihre Eigendynamik. Die Gegenkultur nahm immer mehr von der Stadt Besitz. Nach langen Jahren des Dornröschenschlafs während der Diktatur war das anarchische Madrider Nachtleben wieder da. Madrid war die wahrscheinlich aufregendste Stadt Europas. Alles schien möglich, trotz oder gerade wegen der problematischen Situation. Die Schattenseiten nicht nur der Movida sondern der gesamten Zeit des Aufbruchs: Drogen und AIDS. Das ist beides schnell dahergesagt, entwickelte sich in den frühen achtziger Jahren aber zu einer regelrechten Massenepidemie. In wohl keinem europäischen Land schlugen beide Geißeln so hart zu wie in Spanien. Und so war die "Movida madrileña" von Anfang auch eine Geschichte der früh Verstorbenen.

Die Gegenkultur fraß ihre eigenen Kinder und mutierte mit der Zeit zum Mainstream. Miguel Bosé, Alaska und Pedro Almodóvar sind heute etablierte Größen im hispanischen Show- und Kulturleben. Kein Wunder also, dass im Rückblick auch andere Aspekte sichtbar werden. Die Movida als solche war von Anfang an eine Angelegenheit einiger weniger, die mit der Zeit kommerzielle Fahrt aufnahm. Nicht selten handelte es sich um junge Leute aus gutem Hause, was dem Rebellentum oft auch den Charakter der Pose verlieh - wir kennen das Phänomen aus der 68er-Zeit. Vielleicht war es auch diese Gutsituiertheit, die für den von Anfang an weitgehend unpolitischen und individualistischen Charakter der Movida verantwortlich war. Die Generation der späten sechziger und frühen siebziger, vielfach von den studentischen Auseinandersetzungen mit der Diktatur geprägt, konnte mit dem dandyhaften Habitus der Jungen nichts anfangen. Kein Inhalt, kein politischer Protest - und das in dermaßen unsicheren und problematischen Zeiten. Doch wie dem auch sei: jeder meiner Freunde denkt voller Wehmut an diese Zeit zurück, und viele junge spanische Künstler der heutigen Zeit wären ohne die StilExzesse der 80er nicht denbar. Die Movida katapultierte, ohne es zu wollen, Madrid in die Moderne und förderte die Toleranz gegenüber schrägen Außenseitern. Vielleicht ist gerade dies ihr bleibendes Verdienst. Keine Revolution im eigentlichen Sinn, aber doch ein tiefgreifender Umbruch.

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